Jüdische Hermeneutik! In diesem Artikel erfahren Sie in 10 Min. wie die Juden, Jesus und Paulus alttestamentliche Texte ausgelegt haben und was das für unsere Hermeneutik bedeutet.
Inhalt
Die Hermeneutik von Jesus und Paulus – diskussionswürdig?
Ich bin davon überzeugt, dass Jesus und Paulus von den Theologen der heutigen Zeit harsche Kritik für ihre Hermeneutik ernten würden. Viele Christen empfinden heutzutage die Art und Weise, wie Jesus, Paulus und die Juden zur damaligen Zeit die Schrift ausgelegt haben, als befremdlich und verantwortungslos. In diesem Artikel möchte ich die Hermeneutik von Jesus, Paulus und den Juden der damaligen Zeit anhand einiger Beispiele skizzieren und herausarbeiten, was wir heute von ihnen in dieser Hinsicht lernen können – auch wenn uns ihre Hermeneutik erst einmal fremd sein mag.
Jüdische Hermeneutik
Um die Hermeneutik Jesu und der Autoren des Neuen Testaments verstehen zu können, ist es wichtig, zu wissen, wie die Juden zur Zeit Jesu das Alte Testament (AT) interpretiert haben. Erst Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. setzte sich durch Rabbi Akiba die wörtliche Auslegung der Bibel durch, was im Laufe der Geschichte auch auf die christliche Hermeneutik abgefärbt hat. Vorher sahen die Juden eine große Freiheit, die alttestamentlichen Texte im Lichte ihrer aktuellen Realität kreativ auszulegen und mit neuer Bedeutung zu füllen. Diese konnte dem ursprünglichen Text unter Umständen sogar komplett fremd sein.
Neue Lebensumstände, wie zum Beispiel das Leben im Exil, halfen den Juden dabei, neue Erkenntnisse über Gott zu gewinnen. Das führte dazu, dass sie ältere Texte aus dem AT neu verstanden und notfalls sogar revidierten. Longenecker (1999:xxvi) fasst die jüdische Interpretation der Schrift zur Zeit Jesu wie folgt zusammen:
Jüdische Exegeten des ersten Jahrhunderts sahen ihre Aufgabe in erster Linie darin, die Heilige Schrift an die gegenwärtigen Umstände des Volkes Gottes anzupassen, neu zu interpretieren, zu erweitern und somit neu anzuwenden, sowohl im Hinblick darauf, wie es leben („halakah”) als auch wie es denken („haggadah”) sollte.
Ein gutes Beispiel für die kreative Auslegung von Bibelstellen ist 4. Mose 20,11 (Schlachter):
Und Mose hob seine Hand auf und schlug den Felsen zweimal mit seinem Stab. Da floß viel Wasser heraus; und die Gemeinde trank und auch ihr Vieh.
Der Gedanke, dass dieser Felsen den Israeliten hinterhergelaufen ist und eigentlich ein Bild für Christus ist, mag nicht das erste sein, was einem beim Lesen dieser Stelle in den Kopf kommt. Doch Paulus hat diese Stelle genau auf diese Weise ausgelegt:
… denn sie tranken aus einem geistlichen Felsen, der ihnen folgte. Der Fels aber war Christus.
(1 Korinther 10,4 Schlachter)
Paulus legte diesen AT-Text kreativ und christuszentriert aus.
Jesu Hermeneutik der Schrift
Auch Jesus passte alttestamentliche Texte an oder legte sie komplett neu aus, wo er es als notwendig erachtete.
Beispiel 1: 5. Mose 28, Johannes 9,3 und Lukas 13,4–5
In 5. Mose 28 verheißt Gott denjenigen, die ihm gehorchen, Reichtum und Gesundheit. Andererseits werden denjenigen, die ihm nicht gehorsam sind, Krankheit, Armut und Unglück angedroht. Dieses wiederkehrende Motiv zeigt ein für die damalige Zeit typisches und stark vereinfachtes Weltbild, das auch heute noch weit verbreitet ist. Auch wir gehen viel zu oft davon aus, dass Schicksalsschläge eine Strafe für Sünde sind, ein gottgefälliges Leben hingegen Segen bewirkt.
Aber Jesus hat sehr deutlich gemacht, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Immer wieder spielt er in seinen Lehren auf 5. Mose 28 an und macht deutlich, dass Gott nicht so ist. Jesus lehrte, dass Gott seinen Regen auf die Guten und die Bösen fallen lässt (Mt 5,45), obwohl 5. Mose 28,24 den Ungehorsamen voraussagt, dass Gott ihnen Regen vorenthalten wird. Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit Behinderungen: Zur Zeit Jesu nahmen die Menschen an, dass Blindheit und andere Behinderungen die Strafe Gottes für Sünde seien. Deshalb fragten die Jünger in Johannes 9,2 Jesus, wer die Schuld an der Blindheit eines Mannes trägt. Jesus stellte jedoch klar, dass die Ursache für die Blindheit nicht in irgendeiner Sünde zu suchen ist.
Ein weiteres Beispiel für dieses Weltbild ist in Lukas 13,4–5 zu finden. Jesus erwähnt dort in einem Gespräch den Einsturz eines Turmes in Siloah, bei dem 18 Männer getötet worden waren. Alle seine Zeitgenossen schlossen daraus, dass die Ursache für diese Tragödie die boshafte Sünde der Opfer war. Doch Jesus wies dieses Denken zurück und verurteilte es. Er erklärte diese Idee aus dem Alten Testament für unwahr. So befreite er zahlreiche Kranke, Arme und Behinderte von der schweren Last der Schuldgefühle, die ihnen zusätzlich von ihrem Umfeld auferlegt wurden.
Ein Gegenbeispiel aus dem Alten Testament – Hiob
Allerdings lässt sich dieses Bild (Altes Testament: Schuld als Ursache für Schicksalsschläge vs. Neues Testament: Schuld keine Ursache für Schicksalsschläge) nicht durchgängig zeichnen. Tatsächlich wird auch bereits an manchen Stellen im Alten Testament deutlich, dass ein Schwarz-Weiß-Denken zu kurz greift und nicht die komplexe Realität der Welt widerspiegelt. Im Buch Hiob kritisiert Gott die Freunde Hiobs für ihre menschenverachtende Sicht, weil sie ihrem vom Schicksal gebeutelten Freund zusätzlich zu seinem Leiden weitere Lasten auferlegen und ihm die Schuld für sein Ergehen in die Schuhe schieben.
Beispiel 2: Lukas 4,19 und Jesaja 61,1–2
Der Geist des Herrn, des Herrschers, ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat, den Armen frohe Botschaft zu verkünden; er hat mich gesandt, zu verbinden, die zerbrochenen Herzens sind, den Gefangenen Befreiung zu verkünden und Öffnung des Kerkers den Gebundenen, 2 um zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn und den Tag der Rache unseres Gottes, …
(Jesaja 61,1–2 Schlachter)
Der letzte Teil dieser zwei Verse war den Juden besonders wichtig und eine Art Lieblingsverheißung. Sie warteten sehnsüchtig darauf, dass Gott endlich kommen würde, um mit den verhassten Römern abzurechnen. Doch als Jesus den Text in der Synagoge vorlas, ließ er den Teil über Gottes Rache weg (Lukas 4,19), weil dieser nicht wirklich widerspiegelt, wie Gott ist. Gott ist nicht rachsüchtig.
Als Jesus das tat, war das für seine Zuhörer zu viel. Sie wurden zornig (Lukas 4,22):
„Alle zeugten gegen ihn und waren entsetzt (griechisch: ethaymazon) über die Worte der Barmherzigkeit, die aus seinem Mund kamen.“
(Marshall, 1978:185)
Dass Jesus einen Text der Rache in einen Text über Gottes skandalöse Gnade verwandelte, war mehr als seine Zuhörer ertragen konnten. Es war sogar ein Grund für sie, Jesus zu töten (Lukas 4:29).
Beispiel 3: Matthäus 5,38–39 und 5. Mose 19,21
Ihr habt gehört, daß gesagt ist: »Auge um Auge und Zahn um Zahn!« Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar;
(Matthäus 5,38–39 Schlachter)
„Auge um Auge – Zahn um Zahn“ war nicht nur ein Ratschlag, sondern ein Gesetz, das Gott selbst gegeben hatte (5. Mose 19,21). Aber Jesus machte deutlich, dass „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ niemals Gottes wahrem Willen entsprach, sondern nur eine vorübergehende Lösung darstellte, die ein Zugeständnis an die hartherzigen Menschen war. Gott verbot damit die unbegrenzte Rache, die damals üblich war („Du hast meine Frau verletzt, ich bringe deine gesamte Familie um.“). Stattdessen wurde die Rachsucht auf ein Level begrenzt, dass dem tatsächlichen Schaden entsprach.
Mehr noch: Jesus machte deutlich, dass Rache nicht dem Weg Gottes entspricht. Jesus hat uns Gottes Weg der Vergebung und der Feindesliebe offenbart. Es ist unmöglich, dem Weg Jesu der Vergebung und Gewaltlosigkeit zu folgen und gleichzeitig das Rachegebot des AT zu befolgen. Jesus erklärte also dieses spezielle Gesetz aus dem Alten Testament für ungültig.
Jetzt klingeln bei dem einen oder anderen sicherlich die Alarmglocken, denn Jesus hat ja selbst gesagt, dass er das Gesetz nicht außer Kraft setzt. Richtig. Dieser Vers steht nur ein paar Verse vor Mt 5,38–39 und deshalb schauen wir uns das jetzt genauer an.
Jesus ist gekommen, um das Gesetz zu erfüllen
Eine Stelle, die oft zitiert wird, um zu belegen, dass Jesus jeden Vers des Alten Testamentes als wahr erklärt, ist Matthäus 5,17 (NGÜ):
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten außer Kraft zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um außer Kraft zu setzen, sondern um zu erfüllen.
Das griechische Wort für „erfüllen“ ist plēroō, und es bedeutet so viel wie etwas zu vervollständigen, etwas Unvollkommenes zur Vollendung zu bringen oder etwas Unfertiges zu vollenden (Bauer/Aland 1988).
Es geht also nicht darum, dass Jesus alle 613 Gebote aus dem Alten Testament genau befolgt hat oder sie alle befürwortet. Das wird jedem, der die Evangelien liest, schnell klar, denn Jesus wird immer wieder von den Schriftgelehrten als Gesetzesbrecher angeklagt. Es geht darum, dass Jesus den Kern aller Gebote erfüllt hat. Er hat die Idee, die hinter den Geboten steht, durch sein Leben vorgelebt und erfüllt und so das Gesetz zur Vollendung gebracht.
Was ist damit gemeint? Jesus selbst sagt in Mt 22,37–40, dass die Gottes- und Nächstenliebe das ganze Gesetz umfasst. Wer Gott und den Nächsten liebt, hat das ganze Gesetz erfüllt. Paulus bestätigt, dass die Liebe „die Erfüllung (plēroō) des Gesetzes ist“ (Röm 13,10 NGÜ). Jesus hat Gott und die Menschen um ihn herum geliebt. Alles, was er tat, war aus Liebe motiviert. Gerade indem er einige AT-Gebote, die seinem Ideal der Liebe widersprachen, auflöste, brachte er das Gesetz zur Vollendung. Indem er limitierte Rache verbot und unlimitierte Vergebung gebot, erfüllte er die Gebote der Thora.
Paulus’ Hermeneutik
Saulus war ein eifriger Pharisäer. Er gehorchte dem Gesetz so gut, dass er sich selbst als „tadellos“ betrachtete (Philipper 3,6 NGÜ).
„Für die Juden des ersten Jahrhunderts war Eifer etwas, das man mit einem Messer tat. Jene Juden des ersten Jahrhunderts, die sich nach einer Revolution gegen Rom sehnten, blickten auf Pinehas und Elia im Alten Testament sowie auf die Helden der Makkabäer zwei Jahrhunderte vor Paulus als ihre Vorbilder zurück. Sie sahen sich selbst als „Eiferer für JHWH“, „Eiferer für die Thora“ und als das Recht und die Pflicht, diesen Eifer mit Gewalt in die Tat umzusetzen.
(Wright, 1997:27)
Saulus, der das Alte Testament gründlich studiert hatte, glaubte fest daran, dass Gewalt der richtige Weg sei, um Gott zu dienen und seine Ziele zu erreichen. Sein Verständnis des AT führte ihn dazu, im Namen Gottes Gewalt anzuwenden und die Christen zu verfolgen.
Nach seiner Begegnung mit Jesus „musste Paulus völlig neu überdenken, wie er die Heilige Schrift, die er zuvor auf diese giftige und gewalttätige Weise gelesen hatte, verstehen sollte, was ihn zu einem völlig anderen Verständnis des Willens Gottes und einer völlig anderen Art der Interpretation derselben Heiligen Schrift führte.”
(Flood 2014:60)
Während sich das Leben des Paulus vor seiner Bekehrung um das Gesetz drehte, begann er nach seiner Bekehrung das AT auf neue Weise zu lesen und auszulegen. Liebe und Barmherzigkeit standen nun im Mittelpunkt seiner Interpretation des AT (Römer 13,8–10). Wie Jesus begann er, der Liebe Vorrang vor Gesetzen und Regeln zu geben. Er wandte sich vom Mythos der „erlösenden Gewalt“ ab. Paulus begann bewusst, Stellen aus dem AT zu zitieren, die Gewalt enthielten, nahm jedoch die entsprechenden Passagen heraus und kehrte so ihre Bedeutung um. Dadurch konnte er Gottes Barmherzigkeit und nicht seine Gewalt bzw. seinen Zorn verkünden. Hier sind zwei Beispiele für Paulus’ Hermeneutik.
Beispiel 1: Römer 15,9 und Psalm 18,41–49
In Römer 15,9 weist Paulus darauf hin, dass die Heiden Gott für seine Barmherzigkeit verherrlichen. Die Stelle aus dem Alten Testament, die er zur Bestätigung seiner Aussage zitiert, ist Psalm 18,49. Paulus kannte deren Kontext. In Psalm 18,41–49 geht es darum, dass Gott David die Macht gibt, die Heiden zu Staub zu zermahlen und sie wie Lehm zu zermalmen (V.42). Es geht um die gewaltsame Niederlage und Unterwerfung der Heiden.
Paulus “ignoriert” diese gewalttätigen Beschreibungen jedoch und gibt diesen Versen mit großer Freiheit eine neue Bedeutung. Er nimmt ihnen die gewalttätigen Teile und interpretiert sie neu.
Beispiel 2: 1. Korinther 15,55 und Hosea 13,14
In 1. Korinther 15,55 feiert Paulus den Sieg Gottes über den Tod: „Wo ist, o Tod, dein Sieg? Wo, oh Tod, ist dein Stachel?“ Eigentlich zitiert er hier jedoch Hosea 13:14, das in einem völlig anderen Kontext steht. Gott sagt an dieser Stelle eigentlich, dass er Israel nicht vom Tod erlösen wird und dass er kein Mitleid mit ihnen haben wird. Er wird sein Todesurteil über Israel nicht aufheben.
Soll ich sie vor dem Tod retten? Soll ich sie aus der Gewalt des Totenreichs erlösen? Nein! Der Tod soll sie dahinraffen, das Totenreich sie gefangen nehmen! Ich werde kein Mitleid mehr mit ihnen haben. (Hosea 13,14 HfA)
Paulus nahm diese gewalttätige und rachsüchtige Darstellung Gottes, entfernte den gewaltsamen Teil und verwandelte sie in eine Erklärung des Sieges Gottes über den Tod, der zum Leben führt (1. Korinther 15,22).
Was bedeutet dies alles für unsere Hermeneutik?
Immer dann, wenn unsere Auslegung der Bibel dazu führt, dass Menschen verurteilt, gedemütigt, verletzt oder ausgegrenzt werden oder wenn wir damit ein Gottesbild vertreten, das nicht christusgemäß ist, müssen wir sehr vorsichtig sein. Dann könnten wir die Bibel wie die Pharisäer auslegen. Unsere Auslegung der Bibel sollte christusgemäß sein und zur Liebe führen, denn
das Ziel aller Weisung ist die Liebe.
(1. Timotheus 1,5 ZB 2007)
Eine solche Hermeneutik verlangt, dass wir manchmal dem wörtlichen Sinn eines Textes widersprechen oder ihn kreativ auslegen, so wie Jesus und Paulus es taten. Ich schließe mit den Worten von Augustinus:
„Wer meint, die göttlichen Schriften verstanden zu haben, aber sein Verständnis nicht zur Gottes- und Nächstenliebe führt, der hat es noch nicht geschafft, sie zu verstehen.“
(Boyd 2017:147)
Oder anders formuliert:
Alle Auslegungen der Heiligen Schrift müssen von der Liebe motiviert sein, mit ihr übereinstimmen und in ihr resultieren.
(:148)
Bibliografie
Bauer, W. (1988) Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage. Edited by K. Aland and B. Aland. Berlin; New York: Walter de Gruyter.
Boyd, G.A. (2017) The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross. Minneapolis, MN: Fortress Press, S. 147.
Flood, D. (2014) Disarming scripture : cherry-picking liberals, violence-loving conservatives, and why we all need to learn to read the Bible like Jesus did San Francisco, Metanoia Books.
Longenecker, R.N. (1999) Biblical exegesis in the apostolic period. 2nd ed. Grand Rapids, MI; Vancouver: W.B. Eerdmans; Regent College Pub., p. xxvi.
Marshall, I. H. (1978). The Gospel of Luke: a commentary on the Greek text. Paternoster